Südostschweiz vom 18.11.17

Werden die Mindestfallzahlen eingeführt, ist das Bündner Gesundheitssystem ernsthaft bedroht. Die Regionalspitäler stünden vor dem Aus. Regierungsrat Rathgeb ist bereit für den Kampf.

Als Vorbild für die Einführung von Mindestfallzahlen in der Grundversorgung dient dem Bund der Kanton Zürich (siehe Kasten). «Das Zürcher Modell kann aber nicht für die gesamte Schweiz, geschweige denn für unseren Kanton mit unseren Talschaften übernommen werden», sagt Rathgeb. Als Argument für die Einführung der Fallzahlen nenne man stets die Qualität und die Sicherheit der Patienten in den Spitälern.

«Das stimmt aber nicht. Die in der Medizin geforderte Evidenz der qualitätsfördernden Wirkung von Mindestfallzahlen ist mit Ausnahme weniger hoch spezialisierter Eingriffe nicht belegt», sagt Rathgeb und betont: «Ich wehre mich nicht per se gegen Mindestfallzahlen.» Gerade in der hoch spezialisierten Medizin wie bei Transplantationen oder Herzoperationen würden sie grossen Sinn machen. «Aber ich wehre mich gegen die Einführung in der Grundversorgung», so Rathgeb.

Task Force ins Leben gerufen

Weil Gesundheitsdirektor Rathgeb jeden Tag damit rechnet, dass der Bundesrat die Vernehmlassung eröffnet, hat er bereits vor Wochen eine Task Force eingesetzt, deren Arbeiten sein Departementssekretär Claudio Candinas leitet (siehe Interview rechts). Einsitz darin haben Joachim Koppenberg (Chefarzt und Spitaldirektor des Gesundheitszentrums Unterengadin), Reto Keller (Spitaldirektor von Thusis und Präsident des Bündner Spital- und Heimverbandes) sowie Philipp Gunzinger (FDP-Grossrat und Vorsitzender der Geschäftsleitung des Gesundheitszentrums Unterengadin in Scuol).

Chirurgie ist Handwerk

Das Spital des Gesundheitszentrums Unterengadin wäre von der neuen Verordnung hart betroffen. «Wenn der Kanton Zürich Mindestfallzahlen zur Mengensteuerung einführen will, dann soll er das tun», sagt Direktor Koppenberg. «Aber wissenschaftlich bewegt man sich, abgesehen von wenigen hoch spezialisierten Eingriffen, auf sehr dünnem Eis, wenn man behauptet, dass Quantität automatisch zu mehr Qualität führen soll. Aktuelle Schweizer Zahlen zeigen ein komplett anderes Bild.» Chirurgie sei ein Handwerk. «Das kann man nach einer soliden Ausbildung oder eben nicht. Da kommt es nicht darauf an, ob ein erfahrener Arzt jährlich 50 oder 500 Hüftprothesen operiert», sagt er.

Zudem wäre es laut Koppenberg ein Fehler, die Fallzahlen auf die Operateure auszuweiten, wie dies der Kanton Zürich auf 1. Januar 2019 plant. Heisst, dass ein Chirurg beispielsweise eine gewisse Anzahl an Hüftoperationen durchgeführt haben muss, um seine Zulassung weiterhin zu erhalten. «Das würde nur zu einer Mengenausweitung führen. Eine Hüftoperation, die vielleicht gar noch nicht notwendig wäre, würde dann gegebenenfalls doch gemacht. Und das nur aus dem Grund, damit der Operateur für die Operation weiterhin seine Zulassung behalten kann», wie Koppenberg sagt. «Und das soll als Qualität verkauft werden?»

Eine «fatale» Entwicklung

Die Entwicklung mit der Einführung von Fallzahlen in der Grundversorgung wäre sowohl für Ärzte wie auch für Regionalspitäler «fatal», sagt Koppenberg und nennt ein Beispiel. «Regionalspitäler dürften dann keine geplanten ‹einfachen› Hüftoperationen mehr durchführen, Patienten müssten ins Zentrumsspital überwiesen werden. Kommt es aber zu einer notfallmässigen Oberschenkelhalsfraktur, müssten die Patienten aber operativ versorgt werden können», sagt er. «Das ist doch absurd! Genau in solchen Situationen leidet dann die Qualität, weil dann ja wirklich die Routine fehlt und der Chirurg unter schlechten Voraussetzungen operieren muss.» Ganz zu schweigen davon, dass man zu solchen Anstellungsbedingungen keine kompetenten Ärzte mehr fände.

Von den Kosten, welche die Aufrechterhaltung der Regionalspitäler als Notfallkliniken mit sich bringen würden, wollen sowohl Rathgeb als auch Koppenberg gar nicht erst sprechen.

Der falsche Weg

Koppenberg hat Mühe damit, dass unter dem «Deckmantel» von Qualitätssteigerung und Sicherheit für Patienten argumentiert wird. «Das ist eine Pseudo-Argumentation», sagt er. «In Graubünden geht es, im Gegensatz zu Zürich, nicht darum, zu wählen, in welches der vielen Spitäler man gehen will. Bei uns geht es bei einem Notfall und bei schlechtem Wetter um ein oder gar kein Spital!» Wenn man periphere Spitäler schliessen wolle, dann sollten die Politiker in Zürich und Bern auch einmal hinstehen und das klar kommunizieren. «Es ist der falsche Weg, die wirtschaftliche Schraube bei den Spitälern schrittweise so stark anzuziehen, dass der ökonomische Druck so gross wird und man vor Ort den Betrieb selber einstellen muss.»

Kampf an zwei Fronten

Diese Meinung teilt auch Rolf Gilgen. Gilgen ist CEO des Spitals Bülach im Kanton Zürich und somit direkt betroffen von der Einführung der Mindestfallzahlen in fünf Leistungsgruppen der Grundversorgung im kommenden Jahr. Gilgen ist aber auch Verwaltungsratspräsident des Spitals Davos. Er kämpft quasi an zwei Fronten. Und auch Gilgen ist wie Rathgeb und Koppenberg ist nicht per se gegen eine Einführung von Fallzahlen, «aber mit Augenmass». «Und dieses hat man im Moment verloren.»

Gerade der Kanton Graubünden brauche die Regionalspitäler, «sie sind elementar für die Grundversorgung», sagt Gilgen.

Am Anfang war der Kanton Zürich …

Der Kanton Zürich hat 2012 als erster Kanton der Schweiz für einzelne spezialisierte medizinische Eingriffe in Spitälern Mindestfallzahlen festgelegt. Auf 2018 hat der Kanton Zürich nun eine Aktualisierung der Mindestfallzahl- Vorgaben vorgenommen, um die Qualität und Sicherheit der Patienten weiterhin zu stärken. Mindestfallzahlen müssen im Kanton Zürich 2018 bei folgenden Leistungen erreicht werden: Schilddrüsenchirurgie, Hüft- und Knieprothesen, gynäkologische Tumore und Brustkrebsbehandlungen.

Der Kanton Zürich geht aber noch einen Schritt weiter und möchte ab 1. Januar 2019 Fallzahlen für Operateure festlegen. Dagegen kam aber Widerstand auf und eine Gruppe von Spitälern hat sich zur IG Primarspitäler formiert und das Bundesverwaltungsgericht angerufen.